Vor gut vier Jahren bin ich zur Hochschulgruppe “Engineers Without Borders – Karlsruhe Institute of Technology e.V.” gekommen. Ein gemeinnütziger Verein, der weltweit Entwicklungszusammenarbeit in den unterschiedlichsten Bereichen betreibt. Ich habe mich für das Projekt Beaumont – Haiti interessiert, weil ich Menschen helfen wollte, die unter Naturkatastrophen und politischer Instabilität in einem der ärmsten Länder der Welt leiden. In einem kleinen Bergdorf namens Beaumont, siedeln wir eine Schule und ein Waisenhaus um. Aufgrund der Verwüstung durch den Hurrikan Matthew und gleichzeitig auch dem Neubau der Nationalstraße, direkt vor dem alten Gelände, musste ein neues Domizil für die Schüler und Waisenkinder gebaut werden. Mit dieser Entscheidung wendete sich unsere haitianisch-deutsche Partnerorganisation Pwojè Men Kontre vor ungefähr sieben Jahren an uns. Und so kam eines zum anderen.
Wir schaffen durch den Bau sicherer Gebäude die Grundlage für den zuverlässigen Betrieb des Waisenhauses und der Schule. Wir konzipieren, planen und realisieren das gesamte neue Gelände, indem wir unsere im Studium erworbenen Fähigkeiten praktisch und nachhaltig einsetzen. Mit den entstehenden erdbeben- und sturm-sicheren Gebäuden sowie der geplanten Infrastruktur schaffen wir Waisenkindern ein sicheres Zuhause und Schulkindern einen Ort zum Lernen.
Wir wollen Kindern in Haiti Perspektiven schenken, die für jeden von uns selbstverständlich sind. Doch in Haiti bedeutet das nicht nur Zugang zu ausreichendem Trinkwasser, Licht in der Nacht und Bildung als Grundlage zu schaffen. Das bedeutet vor allem auch jedes Gebäude erdbeben- und hurrikansicher auszulegen. Ein Grundsatz für uns, um Nachhaltigkeit in diesem Land überhaupt erst möglich zu machen. Dadurch erhält diese Generation die Chance auf eine angemessene Bildung. Sie gestaltet letztendlich nicht nur ihre eigene Zukunft, sondern wird auch das gesamte Land aktiv weiterentwickeln können.
Von Deutschland aus planen, berechnen und diskutieren wir die unterschiedlichsten Möglichkeiten, Gebäude zu gestalten, die später von uns in Zusammenarbeit mit den Haitianern vor Ort realisiert werden. Seitdem das Projekt in 2014 entstand, wurde viel erreicht – mehrere Klassenzimmer, ein Waisenhaus, eine Kantine, eine multifunktionale Aula mit einer Solaranlage, sowie ein autarkes Abwassersystem wurden gebaut.
Ich bin 2017 zu Engineers Without Borders gekommen und habe seitdem Gebäude, Wasser- und Abwassersysteme entworfen und in CAD gezeichnet, während andere Vereinsmitglieder sie in Haiti implementiert haben. Vor kurzem hatte ich auch die Möglichkeit, an Bauphase 9 teilzunehmen und endlich selbst für sechs Wochen nach Haiti zu gehen. Unser Team hat zusammen mit den haitianischen Arbeitern ein neues Klassenzimmer gebaut und ein weiteres begonnen. Diesen Fortschritt möchte ich gerne mit euch allen teilen, denn er bedeutet mir sehr viel!
Bauphase 9 war die erste Bauphase seit 2019. Zuerst wurden aufgrund von Covid-19 alle Reisepläne weltweit verhindert und wir mussten die Bauarbeiten vor Ort einstellen. Aber auch andere politische Unfälle und ein Erdbeben mit der Stärke 7,3 erschütterten Haiti vor kurzem, wodurch die neunte Bauphase immer wieder zeitlich verschoben wurde. Weder das Team noch der Vorstand des Vereins konnten sicher wissen, wann und ob die diese überhaupt stattfinden kann. Doch alle Gegebenheiten wurden zur Kenntnis genommen und das Team hat sich mit der Lage im Land ausführlich auseinandergesetzt. Entsprechende zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen wurden getroffen und endlich konnte das Reiseteam aufbrechen!
Foto: EWB, David Clement
Nach unserer Ankunft nahmen wir schweren Herzens die Spuren des Erdbebens wahr, das im August das Land getroffen hat: viele Häuser sind stark beschädigt oder komplett zerstört, kaputte Infrastruktur, wie zum Beispiel verschüttete Straßen, erschweren die Landwege, die Baumaterialien fehlen oder sind nur schwer lieferbar. Zum Glück sind alle von EWB gebauten Gebäude bis auf minimale, statisch nicht relevante Schäden intakt geblieben. Die Geländebesichtigung des Waisenhauses und der Schule hat uns Gänsehaut bereitet, da wir mehr als zuvor realisiert haben, dass unsere Arbeit zur Errichtung von qualitativen erdbebensicheren Gebäuden nicht umsonst ist.
In der 9. Bauphase haben wir uns vorgenommen, zwei weitere Klassenräume zu errichten. Das war eine sportliche Aufgabe, vor allem unter dem Aspekt, dass die meisten von uns noch nie davor in Haiti waren und kaum Baustellenerfahrung hatten. Aber wir waren zuversichtlich und motiviert und haben uns gefreut, diese wichtige Arbeit endlich fortzusetzen.
In den ersten zwei Wochen lernten wir schnell, wie die verschiedensten Werkzeuge richtig einzusetzen sind: Sägen, Bohrer, Abbruchhammer, Rüttelplatte wurden täglich auf der Baustelle eingesetzt. Wichtige Techniken des Holzbaus wurden von uns gelernt und gemeistert. Ebenso wurden unsere Abläufe wie beim Rödeln der Bewehrungskörbe immer schneller und genauer. Aber wie auf jeder Baustelle, waren wir ständig mit Herausforderungen konfrontiert. Aufgrund des Benzinmangels stand kurzzeitig unsere erste Betonage auf der Kippe – ohne Treibstoff für die Rüttelplatte und Betonmischer konnten die Gräben für das Fundament weder eingeebnet noch das Fundament betoniert werden. Doch die rettende Hilfe kam gerade noch rechtzeitig von Hugo, unseren Partner und Baustofflieferanten, der uns 3 Gallonen Benzin besorgt hat.
Links: Rüttelplatte im Einsatz
Rechts: Bewehrungskörbe sind fertig
Die erste große Betonage starteten wir mit viel Freude und natürlich einer gesunden Portion Aufregung vor dem anstrengenden Tag. In der prallen Sonne haben wir zunächst mit drei Betonmischern gleichzeitig angefangen: 4 Eimer Kies, 2 Eimer Sand, 1 Sack Zement, Wasser rein – Beton raus, kontinuierlich ohne Unterbrechung. Doch wie es kommen musste, verlief nicht alles nach Plan: Eine Stunde nach Beginn der Betonage fällt der erste Betonmischer aus, Kugellager kaputt. Eine halbe Stunde später reißt der Keilriemen vom zweiten Betonmischer und etwa gleichzeitig fangen die Arbeiter an zu streiken. Doch nach Verhandlungen mit den Arbeitern und einigen Telefonaten, um kurzer Hand einen Keilriemen zu besorgen, konnte die Betonage doch noch mit vereinten Kräften gut zu Ende gebracht werden.
Die weiteren Betonagen von Sockel, Bodenplatte und dem zweiten Fundament liefen mit unserem eingespielten Team und einer guten Vorbereitung dann problemlos.
Foto: EWB, David Clement
An unseren freien Tagen haben wir die wunderschöne Landschaft und die herzliche Gastfreundschaft der Haitianer genossen und konnten uns von der anstrengenden Arbeit erholen. Zum Programm gehörte selbstverständlich auch, die Ausflugsziele in der Umgebung zu besuchen: Seien es die dunklen Höhlen im Tal oder die Berge, um die atemberaubende Aussicht zu genießen. Mit viel Glück und gutem Wetter kann man von dort sogar das Karibische Meer in der Ferne erkennen. Die Natur Haitis ist außergewöhnlich und faszinierend für das europäische Auge. Palmen und Lianen, Blumen unterschiedlicher Größen und Formen, sowie große bunte Schmetterlinge, riesige Spinnen, tropische Frösche, Schlangen, Kolibris und mehrfarbige Eidechsen werden noch lange in unserer Erinnerung bleiben.
Die Sprachbarriere und unterschiedliche kulturelle Hintergründe waren mit der Zeit kein Hindernis mehr, um abends ein Bierchen mit Valleur (Direktor des Waisenhauses) zu trinken oder mit den Mädchen im Waisenhaus Nan Ginen Brettspiele zu spielen und neue Tanzbewegungen zu lernen. Wir haben auch eine gute Beziehung zu den Arbeitern aufgebaut, die uns auf unseren Ausflügen begleiteten. Immer wieder haben sie uns volle Kisten Maracujas, Guaven, Kokosnüsse und Orangen mitgebracht, was nach den anstrengenden Baustellentagen genau das richtige war.
Die letzte Woche auf der Baustelle war sehr produktiv, aber nicht einfach. Anders als bei vorherigen Bauphasen, die teilweise monatelang waren und in denen mehrere Teams einander abgelöst und die Arbeit der anderen fortgesetzt haben, bestand diese Bauphase aus nur einem Team, das den Klassenraum vom Anfang bis Ende bauen musste. Es war uns bewusst, dass es noch einiges bis zu der Abreise zu erledigen gibt, um das Haus fertigzustellen. Die Klassenräume werden hier gerade sehr gebraucht. Die Anzahl der Schüler steigt, sodass Unterricht zurzeit sogar im Essensbereich der Kantine durchgeführt wird. Auch in der Aula lernen immer zwei Klassen gleichzeitig, was wegen des Geräuschpendels keine optimale Lösung ist. Deswegen starteten wir mir Tatendrang in die finale Woche.
Nachdem die Wände des Klassenraums miteinander verstrebt wurden, mussten diese mit Holzlamellen verkleidet werden. Von außen sind die tragenden Bauteile nicht sichtbar, von innen ist das Fachwerk aber offen und wird bald von den Lehrern und Schulkindern als Regale benutzt. Die Dachbinder wurden fast ausschließlich durch unsere Haitianische Helfer Stanley und Jean Vanex fertiggestellt und auf das Dach aufgestellt. Diese mussten mit Windverbänden ausgesteift werden – essentiell für die Tragfähigkeit des Dachstuhls. Mittlerweile können Stanley und Vanex gut mit Holz arbeiten, was selten für Haitianische Arbeiter ist. Wir haben mit ihnen einige Schulungen zur Bedienung unterschiedlicher Sägen und anderem Werkzeug, das man bei der Holzbearbeitung verwendet, durchgeführt und sind gemeinsam alle Dachstuhlpläne genau durchgegangen. Unsere haitianischen Freunde haben mit viel Interesse und Motivation die neuen Aufgaben erledigt – zuerst langsam und unsicher, aber mit der Zeit immer schneller und genauer, bis alle Dachbinder aufgestellt und befestigt waren.
Auch hier im sonnigen Haiti sind deutsche Traditionen nicht in Vergessenheit geraten: nach der Fertigstellung der Holzkonstruktion haben wir ein kleines Richtfest mit dem guten haitianischen Rum gefeiert. Es war atemberaubend, den ersten Sonnenuntergang vom frisch gebauten Dach anzuschauen, denn der Ausblick von da oben ist einfach der Wahnsinn!
Nun mussten die Lattung und das Blech an das Dach angebracht werden. Aber wieder läuft alles nicht nach dem Plan: zwei Tage lang gab es starke Gewitter und Schauer.
Auf dem rutschigen Blech bei diesem Wetter zu arbeiten war gefährlich. Sehnsüchtig hat das Team auf die Sonne gewartet – und dann kam sie. Wieder wurde es auf der Baustelle tagelang genagelt und geschraubt, das Haus nahm seine endgültige Form an. Nachdem die Fensterläden und die Tür montiert werden und der Estrich gegossen wird, kann man das Gebäude nutzen.
Auch während des Regens hatten wir keine Zeit zu faulenzen. Einige Reparaturen in den Duschen des Mädchenwohnhauses wurden durchgeführt, der Werkzeugcontainer aufgeräumt und das vorhandene Material für die nächsten Teams sorgfältig durchgezählt. Zusätzliche Schulungen zur Wartung des PAUL-Wasserfilters, sowie zur Instandhaltung von den Batterien der Photovoltaikanlage wurden mit den Hausmeistern der Schule durchgeführt, um die Langlebigkeit der Strom- und Frischwasserversorgung sicherzustellen.
Für den zweiten Klassenraum wurden die Mauersteine vorbereitet. Die Bauleitung des Hochbaus dieses Klassenraums wird nach unserer Abreise von unseren Freunden vor Ort, Stanley und Jean Vanex, übernommen.
Kurz vor unserer Abreise wurden wir von Valleur in die Kirche und anschließend zum Essen eingeladen, wo wir katholische Traditionen Haitis erleben konnten. Während es in Europa in den katholischen Messen über unsere Sünden melancholisch gepredigt wird, herrscht hier eine viel fröhlichere Stimmung mit Gesang, der leicht mit der entspannenden Strandmusik zu verwechseln ist, wenn man den Text nicht versteht. Nach der Messe hatten wir die Möglichkeit, den Bischof Joseph Gontran Decoste kennenzulernen. Er erzählte viel über seine Reisen nach Deutschland, darüber, wie ihn die Schönheit des Kölner Doms beeindruckt hat und über die Zusammenarbeit mit deutschen katholischen Vereinen, die schon seit 60 Jahre Haiti unterstützen. Er war sehr interessiert an unserer Arbeit und hat uns sogar zum Besuch nach Les Cayes eingeladen. Der Austausch mit diesem netten und geerdeten Mann war sehr interessant und inspirierend – wir sind neidisch auf die nächsten Reiseteams, die sein Angebot wahrnehmen können.
Mit schwerem Herzen und nicht ohne Träne haben wir uns von den Waisenkindern verabschiedet. In der Zeit, die wir in dem Waisenhaus Nan Ginen gelebt haben, haben wir uns sehr an sie gewöhnt. Auch wenn wir nur mit Händen und Füßen kommunizieren konnten, hat es so viel Spaß gemacht, abends zusammen zu spielen und zu tanzen, sie beim Singen zuzuhören. Tanz und Lächeln sind internationale Sprachen, trotzdem haben wir mehrmals bereut, dass wir Kreol vor der Reise nicht besser gelernt haben, um tiefere Gespräche führen zu können.
Plötzlich kam der Tag der Abreise – sechs Wochen sind wie im Flug vergangen. Unsere Koffer sind voll mit Bernardette‘s (unsere Köchin) hausgemachter Marmelade und unsere Herzen mit Stolz auf die erbrachten Leistungen und mit den schönsten sonnigen Erinnerungen, die uns im kalten regnerischen Deutschland den ganzen Winter wärmen werden.
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